Schlag! Kick! Schlag! Kick!

Solln-Prozess VI: Noch viel Klärungsbedarf im Verfahren des Jahres

München (dv). Bis jetzt war doch alles klar. Zwei Rowdys bedrohen Kids und wollen von ihnen Geld erpressen. Ein couragierter Manager mischt sich ein, beschützt die Bedrohten. Am S-Bahnhof Solln im Süden München von München kommt es zum Showdown. Die jungen Männer attackieren Dominik Brunner, den Manager, schlagen und treten ihn. Er stürzt auf eine Bahnsteigkante. Sie hören nicht auf. 22 Schläge und Tritte. Dann fliehen sie. Als die alarmierte Polizei eintrifft, ist das Sterben des Opfers nicht mehr aufzuhalten.

Alles nachvollziehbar. Als wäre es aus dem Drehbuch eines einschlägigen Films.

Doch nun mehren sich nach den ersten Prozesstagen Zeugenaussagen, die nachdenklich stimmen. Und es wird publik, dass in der kommenden Woche Experten erlären werden, dass Herr Brunner nicht unmittelbar an den Schlägen sondern an einem Herzstillstand gestorben ist (e110 berichtete).

Die Sache mit dem Herzversagen
Das ist – gelinde gesagt – ein kleiner Skandal, wenn es so passiert. Dann muss die Staatsanwaltschaft einiges erklären. Denn sie hat wohl um die Todesursache gewusst, sich aber in dieser Hinsicht immer bedeckt gehalten.

Warum? Bislang erschließt sich die Taktik der Ankläger nicht.

Am Wochenende zumindest sah sich Oberstaatsanwältin Barbara Stockinger, Sprecherin der Anklagebehörde, genötigt, zu Protokoll zu geben: „Herr Brunner ist infolge der Schläge und Tritte daran gestorben, dass das Herz stehengeblieben ist.“ Damit sei zwar klar, dass es keine eindeutig zuzuordnende Todesursache wie einen tödlichen Schlag gegeben habe. Aber Brunner hätte nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ohne die massiven Schläge und Tritte keinen Herzstillstand erlitten.

Das klingt fast wie ein zwischenzeitliches Rückzugsgefecht. Kann man denn da noch eine Mordanklage aufrecht erhalten?

Hinzu kommt, dass die Zeugen in der ersten Verhandlungswoche mit ihren Aussagen den Angriffs-Elan der Ankläger zum Teil kräftig gebremst haben.

Deeskalation war das nicht
Mehrere Frauen und Männer haben am Tattag beobachtet, dass der Manager eine „Kampfhaltung“ eingenommen habe. Eine Augenzeugin, die seit der Donnersbergerbrücke mit im Zug war, sagt aus, Brunner habe in der S-Bahn „schon etwas gereizt“ gewirkt. Sie habe den Beginn der Schlägerei durch das S-Bahnfenster gesehen. Brunner sei „zwei, drei Schritte“ auf Markus S. und Sebastian L. zugelaufen.

Dann habe er zuerst einen der Beiden mit der Faust ins Gesicht geschlagen und nach ihm getreten. Er habe auch in die Richtung des anderen geschlagen und getreten. „Schlag, Kick, Schlag, Kick. So sah das aus“, erzählt die Zeugin. „Ich war völlig perplex“, weil ihr die Situation zuvor in der S-Bahn „nicht gefährlich“ vorgekommen sei. „Das war einfach nur verblüffend, ich habe nicht damit gerechnet.“ Eine andere Frau in der S-Bahn habe die Szene ebenfalls mitangesehen und gesagt: „Ui, jetzt geht der auf die Jugendlichen los.“

Richter mit dem richtigen Händchen
Ein Glücksfall für diesen schwierigen Prozess ist der Vorsitzende Richter Reinhold Baier. Umsichtig leitet der silberhaarige massige Mann das Verfahren. Er gibt den Angeklagten die Möglichkeiten, ihren Taten, die sie heute nicht mehr begreifen, noch einmal nachzuspüren. Er will verstehen, was nicht nachvollziehbar scheint. Der Vorsitzende ist geduldig, zielstrebig – und er folgt der Devise, die er sich selber gegeben hat: „Es ist ein Prozess wie jeder andere.“

Baier, der die Jugendkammer seit vier Jahren leitet, ist auch Vizepräsident des Bayerischen Fußballverbandes (BFV). Dort hat der gebürtige Münchner ebenfalls mit der Verhütung von Gewalt zu tun. Er leitet beim BFV die Arbeitsgemeinschaft „Gemeinsam und fair“ mit dem Schwerpunkt Gewaltprävention. Auch auf dem Fußballplatz häufe sich Gewalt, stellte Baier fest. Fußball sei nur ein Spiegel der Gesellschaft.

Ein ausgewiesener Spezialist für die Gewaltbereitschaft junger Menschen ist Reinhold Baier. Das Prügeln sei ja kein neues Phänomen. „Aber wenn der Kampf gewonnen war, hat man nicht nachgetreten“. Auffällig sei auch die Nichtigkeit der Anlässe: „Da geht´s nicht mehr um die Freundin, die einem ausgespannt wurde. Oder um einen lang schwelenden Konflikt. Heute wird offenbar einfach Frust entladen, das entsteht aus dem Nichts.“

An ihm ist es nun vor allem, das Nichts zu erklären.

18.07.2010 dv