Berlin (Christiane Jacke). Klaus Beier arbeitet in der Schmuddelecke“. Kindesmissbrauch ist in der Wissenschaft noch immer ein Randthema. Für den Berliner Sexualwissenschaftler Beier nicht. Er behandelt Pädophile, hilft ihnen, ihre Neigung zu kontrollieren und bemüht sich um Aufklärung. Viele Richter, Staatsanwälte oder Mediziner meiden das Thema dagegen, Forscher ebenso. Zu groß ist die Abscheu, in die Welt von „abstoßenden“ sexuellen Fantasien einzutauchen.
Zu Jahresbeginn kamen bundesweit nahezu täglich neue Fälle von Kindesmissbrauch in Schulen, Internaten und katholischen Einrichtungen ans Licht. Eilig wurde ein Runder Tisch ins Leben gerufen und eine Hotline für Opfer eingerichtet. Das Thema dominierte wochenlang die Nachrichten. Doch inzwischen ist es wieder ruhiger geworden. Der Runde Tisch arbeitet zwar noch, Anfang Dezember ist das nächste Treffen angesetzt. Beier sitzt selbst in dem Gremium. Im Alltag muss er aber immer noch gegen viele Vorurteile und viel Unwissen ankämpfen. Auch andere Fachleute beklagen, dass das Thema eine Randexistenz fristet.
Verurteilen hilft nicht
2005 startete Beier an der Berliner Charité das Projekt „Dunkelfeld“. Es bietet kostenlose Beratung und Therapie für Pädophile an. 55 Prozent der Männer, die zu Beier kommen, haben bereits Übergriffe an Kindern begangen. Der Rest spürt den Sog zu Jungen und Mädchen und hat Angst, dem nachzugeben. Was alle gemeinsam haben, ist der Wunsch, ihren sexuellen Hang unter Kontrolle zu bekommen. „Niemand sollte für seine Neigung verurteilt werden“, sagt Beier, „sehr wohl aber für sein Verhalten.“ Entscheidend sei, dass jemand „sein Schicksal akzeptiert und verantwortungsvoll damit umgeht, damit aus Fantasien keine Taten werden“.
Derzeit sind etwa drei Dutzend Männer bei dem Projekt in Behandlung. Wöchentlich sprechen sie in Einzelsitzungen oder in Zehner-Gruppen mit Therapeuten über Risikosituationen im Alltag – Momente, in denen sie mit Kindern allein sind – und wie sie dabei sicher ihr Verhalten kontrollieren. Ein Fünftel der Männer bekommt zusätzlich Medikamente, um den sexuellen Antrieb zu dämpfen. Partner und Verwandte bindet das Team von Beier ein und klärt auch sie über Gefahrensituationen auf.
Viele der Männer, die nicht ausschließlich auf Kinder fixiert seien, hätten feste Beziehungen zu Frauen, sagt Beier. Aber Sex mit erwachsenen Frauen könne die pädophile Neigung eines Mannes nicht unterdrücken. Diese Präferenz sei „nicht hintergehbar“ – ein Leben lang. Die Betroffenen dürften sich nichts vormachen – alles andere sei „Selbstbetrug“.
Wenn das „Problembewusstsein“ kommt
Ein Prozent der männlichen Bevölkerung ist pädophil. Das „erste Problembewusstsein“ stelle sich bei den meisten Anfang 20 ein, erzählt Beier. Die Männer, die bei ihm Rat suchen, sind im Schnitt aber bereits 40 Jahre alt. Das sei „viel zu spät“, beklagt Beier. Er würde die Betroffenen gerne im jungen Erwachsenenalter erreichen, bevor sie sich für einen Job entscheiden. Viele suchten sich Aufgaben mit Kontakt zu Kindern – als Pädagogen, Erzieher oder auch ehrenamtlich in Sportvereinen oder der Gemeinde. Mehr Nähe zu Kindern bedeutet mehr Risiko.
In der Aufklärung gebe es noch viel zu tun, sagt Beier. In der Gesellschaft, aber auch in Berufen, die mit Missbrauch zu tun haben. Richter etwa müssten sich verpflichtend fortbilden und mit dem Thema beschäftigen. Nötig seien „Chronikerprogramme“, in denen Betroffene immer wieder die Möglichkeit hätten, sich in Behandlung zu begeben. Pädophilie sei nichts anderes als eine „chronische Erkrankung“.
Gegen diese Einschätzung wehren sich Opfervertreter wie Norbert Denef vehement. Von einer Neigung oder einer Krankheit will der 61-Jährige nicht sprechen. Für ihn ist Pädophilie ein „Verbrechen, das man im Kopf plant“. Dies werde „verharmlost“ und „verniedlicht“. Denef ist selbst Opfer. In seiner Jugend wurde er über mehrere Jahre von einem katholischen Priester missbraucht. Inzwischen hat er ein Netzwerk Betroffener gegründet – das Netzwerk B.
An die Opfer denken
Täterforschung hält Denef für richtig. „Da kann man nicht genug machen“, sagt er. Nur müsse die Wissenschaft mehr in die Tiefe gehen, nach Ursachen fragen. Das macht Beier seiner Ansicht nach zu wenig. „Und man darf die Opfer nicht vernachlässigen“, mahnt er. Betroffene müssten oft monatelang auf eine Therapie warten, weil es an Behandlungsplätzen fehle.
Beier reagiert mit Verständnis auf die Kritik. Bei einem derart „emotional belasteten Thema“ sei klar, dass es Vorbehalte gebe, sagt der Sexualmediziner, aber unter rationalen Gesichtspunkten wisse er „keinen besseren Weg“, als pädophile Männer davon abzuhalten, überhaupt zum Täter zu werden.
23.10.2010 dv
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