Duisburg (dapd). Markus (Name geändert) war erst ein paar Wochen alt, da hatte er schon blaue Flecken am ganzen Körper. Seine Eltern sagten dem Arzt, der Junge habe sich selbst mit der Babyflasche geschlagen. Glaubwürdig klang das nicht, aber eine akute Gefährdung des Kindeswohls konnte der Arzt nicht beweisen: Gebunden an die Schweigepflicht ließ er das Jugendamt außen vor. Markus kam wieder zu seinen Eltern. Sie misshandelten ihren Sohn immer wieder – und wechselten ständig den Arzt, sodass die Häufigkeit der Verletzungen niemandem auffiel. Fachleute nennen das «Ärzte-Hopping».
Fälle wie dieser ließen dem Kriminalbeamten Heinz Sprenger und dem Duisburger Kinderarzt Ralf Kownatzki keine Ruhe. In einem Modellprojekt richteten sie eine Datei ein, um Verdachtsfälle von Kindesmisshandlungen zu erfassen und rechtzeitig reagieren zu können.
Ärzte-Hopping“ wird erkannt
In Duisburg läuft das Modellprojekt „Riskid“ bereits seit einigen Jahren, die Erfahrungen sind gut: «Wir hatten Fälle, bei denen Ärzte-Hopping erkannt wurde und das Jugendamt eingreifen konnte», sagt Bernd Carstensen, stellvertretender Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamte (BDK), der das Projekt unterstützt.
Nach der aktuellen Gesetzeslage müssen Eltern ihr Einverständnis für die Speicherung und Weitergabe der Informationen geben – und das ist das Problem: Denn gerade problematische Familien könnten die Unterschrift verweigern. Der BDK fordert deswegen eine Gesetzesänderung, um «Riskid» auch ohne Einverständniserklärung etablieren zu können.
Das Familienministerium hält davon nichts. Der Entwurf für ein neues Kinderschutzgesetz, den Ministerin Kristina Schröder (CDU) vorstellte, sieht Familienhebammen und Hausbesuche vor, um Misshandlungen vorzubeugen. Bei «gewichtigen Anhaltspunkten» für eine «akute Kindeswohlgefährdung» sollen Ärzte auch von der Schweigepflicht entbunden werden und das Jugendamt informieren dürfen. Von Verdachtsfällen ist nicht die Rede. Auch «Riskid» oder eine ähnliche Maßnahme, um dem Problem des «Ärzte-Hopping» zu begegnen, wird nicht erwähnt.
Ministerium ist nicht erbaut
Auf eine Anfrage der Nachrichtenagentur dapd heißt es im Ministerium, eine Datei wie «Riskid» sei als Gegenmaßnahme gegen das Ärzte-Hopping nicht erforderlich. Ein Arzt könne Eltern nach einem Verdachtsfall schon jetzt auffordern, mit ihrem Kind innerhalb eines bestimmten Zeitraums wieder vorstellig zu werden. Täten die Eltern das nicht, könne der Arzt den Fall melden, so das Ministerium.
«Stimmt», sagt Bernd Carstensen: «Aber doch nur in der Theorie. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Eltern viele Erklärungen für einen Arztwechsel finden können, und Ärzte solche Fälle eben nicht melden.»
Doch das Ministerium hat weitere Vorbehalte: Gegen die für die Weitergabe und Speicherung der Informationen nötige Gesetzesänderung gebe es verfassungsrechtliche Bedenken. Es würde sich um eine präventive Sammlung von Auffälligkeiten und Verdachtsmomenten handeln, die einen erheblichen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt, heißt es aus der Behörde. Durch die Datei entstehe Misstrauen von Eltern gegen Ärzte. «Dies könnte sogar dazu führen, dass die Eltern im Ernstfall – auch in einer gesundheitlichen Notsituation des Kindes – gar nicht zum Arzt gehen.»
„Kinderschutz vor Datenschutz“
Bernd Carstensen mag die Bedenken nicht gelten lassen. Durch eine Änderung im Sozialgesetzbuch ließe sich «Riskid» verfassungskonform umsetzen und außerdem gelte: «Kinderschutz muss wichtiger als Datenschutz sein.» Allein im vergangenen Jahr sind laut polizeilicher Kriminalstatistik Misshandlungen an rund 4.000 Kindern gemeldet worden. Dazu kommt nach Ansicht von Experten eine hohe Anzahl nicht angezeigter Fälle. Es sei Zeit zum Handeln, meint Carstensen.
Für Markus kommt die Datei ohnehin zu spät. Etliche Ärzte hatten seine Verletzungen nicht als Misshandlungen eingestuft, erst nach mehreren Monaten und weiteren Verletzungen wurde der Säugling doch in eine Klinik eingeliefert. Bei seiner älteren Schwester Lisa (Name geändert) blieben die fortlaufenden Misshandlungen noch länger unentdeckt. Mit vier Monaten hatte sie gebrochene Knochen. Sie habe sich in den Gitterstäben ihres Kinderbettes eingeklemmt, sagten die Eltern – und misshandelten ihre Tochter weiter. Erst im September dieses Jahres gestanden sie. Lisa musste eineinhalb Jahren mit den Misshandlungen leben.
20.12.2010 dv
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